Sichere Einsamkeit - vier Monate im Condomínio

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Meine erste Gastfamilie, mit der ich die ersten vier Monate meines Aulandsjahres in Belo Horizonte, Brasilien gelebt habe, wohnt in einem Condomínio, einer geschlossenen Siedlung 45 Kilometer außerhalb der Stadt. Dieses Isoliert-sein war für mich Großstadtkind zu Beginn sehr aufregend, und, wie sich später herausgestellt hat, eine sehr intensive Erfahrung.

Das Condomínio meiner Gastfam ist ein Zusammenschluss von sechs Residecials, "kleinen Dörfer", die jeweils ein eigenes Sicherheitssystem, eine rund um die Uhr durch bewaffnetes Personal bewachte Pforte, eine Sicherheitsmauer mit Stacheldraht und Kameras ect. haben.

Im Zentrum dieser sechs Residencials gibt es eine Art Hauptstraße mit ein paar Restaurantes, kleinen Läden, überdurchschnittlich vielen Beauty Salons und Kinder-Bespaßungs Geschäften, einer winzigen Ambulanz und einen privaten (sehr teuren) Freizeit-/ Sport Club, in dem meine Gasteltern - und dadurch auch ich - Mitglied sind bzw. war.

Ich weiß nicht warum, aber innerhalb des Condomínios gibt es gleich zwei Escolas do Ensino Fundamental I e II, brasilianische "Grundschulen" (die beide damit werben internationale Programme und zweisprachigen Unterricht anzubieten).

Das hat, wie mir meine Hostmom auch tatsächlich erzählte, zur Folge, dass fast alle Kinder die hier aufwachsen diese abgeriegelte Region nur selten verlassen, und, wenn sie auf eine weiterführende Schule in Belo Horizonte kommen, zu Beginn etwas "überfordert" von und mit der Großstadt sind.

Jetzt im Nachhinein finde ich, erzählt nur das schon eine Menge über diesen Ort und seine Bewohner.

Schon die Autofahrt vom Flughafen, von dem mich meine Gastmutter und meine beiden Gastgeschwister abholten, zum Condomínio, war ein kleiner Kulturschock an sich; vorbei an Wellblechhütten, Straßenhunden und -kindern, dem Hochhauswald von Belo Horizonte und durch die Berglandschaft von Minas Gerais, in eine kleine Kolonie von schneeweißen Reihenhäusern mit Palmen, Pools und Gärtnern, hinter Mauern und Stacheldraht. Sehr verschiedene Realitäten, Welten.

Jardim Canadá, ein sehr armes Viertel am Stadtrand von Nova Lima, nah zu Belo Horizonte, an dem ich zwar auf meinem Schulweg jeden Tag vorbei gefahren, aber nur zwei, drei Mal mit meiner Gastmutter zum Lebensmittel-Einkaufen gewesen bin.

Dadurch, dass das Condomínio sehr weit außerhalb und abgeschieden liegt, ist es zwar ein sehr sicherer Ort,

aber für mich war es durch diese Entfernung zu Beginn sehr schwierig wirklich im brasilianischen Alltag, Belo Horizonte selbst, anzukommen. Es gibt zwar an den Wochentagen zu jeder vollen Stunde einen Privatbus der Siedlung (an Samstagen Sage und Schreibe insgesamt drei und Sonntags keinen einzigen) ins urbane Zentrum und zurück, aber im Schulalltag war es fast unmöglich Belo Horizonte tatsächlich kennenzulernen, und der landschaftlich zwar sehr schöne, aber vom Verkehr abhängig 45 bis sogar 90 minütige  Schulweg wirklich kein Vergnügen.

Im Condomínio selbst gibt es nicht wirklich viel zu tun, allein in meinem Residencial leben bestimmt an die dreihundert Personen, trotzdem habe ich fast nie jemanden auf der Straße gesehen und soweit ich das bei meiner Gastfamilie beobachten konnte, kennen die Nachbarn einander kaum.

Wenn mich in der Schule oder auch anderen Situationen Leute gefragt haben wo ich denn wohnen würde und ich ihnen den Name des Condomínios gesagte, war die Reaktion immer sehr ähnlich; eine Mischung aus Bewunderung und Neid (offensichtlicherweise ist es ein Ort der Reichen, der als eines der besten und sichersten Viertel der gesamten Region gilt), und Mitleid (auf Grund der Entfernung).

Diese Art von Wohnort ist mit Sicherheit auch ein Statussymbol.

Und eine gute Investition. Auch wenn ich mich oft gefragt habe, ob sie sich auch wirklich rentiert, wenn man all die (hier in Brasilien IMMER hohen) Fahrt- und Spritkosten bedenkt. Vom "ökologischen Fußabdruck" dieser kleinen täglichen Weltreisen mit dem Auto zur Arbeit/ Schule und zurück ganz zu schweigen.

Ich habe mich im Nachhinein trotz allem sehr schnell daran gewöhnt, mit dem Bus von der Schule aus der Großstadt, durch Viertel, in denen ich nie einfach so allein aus dem Bus hätte steigen dürfen, von der einen Welt in die andere zu fahren.

Daran, dass ich  meine Gasteltern jedes Mal bitten zu musste, die Sicherheitsbeamten an der Pforte anzurufen, bevor ich das Condomínio verlassen wollte.

Aber das Gefühl des Eingesperrt - seins, das schlechte Gewissen das Bilderbuchbeispiel einer Parallelgesellschaft zu erfüllen. Die Normalität, die das alles jetzt plötzlich schon hatte, war bei genauerem Darübernachdenken absolut nicht angenehm.

 

Wie man sieht, ich kämpfe manchmal sehr mit diesem Punkt der Objektivität. Es ist nicht immer einfach, das Vergleichen auszuschalten, Wertvorstellungen abzuschütteln und einfach zu akzeptieren. Und vielleicht ist das auch gut so, das Hinterfragen un dReflektieren vollständig auszublenden würde sich falsch anfühlen.

Im Endeffekt glaube ich aber, dass ich mit all dem - mit der Schwierigkeit, mich it meinen Freunden zu treffen, den langen Fahrtwegen, spärlichen Busverbindungen und dem extra-frühen, fast noch nächtlichen Aufstehen um rechtzeitig in die Schule zu kommen und das nagende Bewusstsein der Seifenblasen-haften Parallelwelt  - ohne Probleme hätte arrangieren können, wenn ich mich gut mit meiner Gastfamilie verstanden hätte.

Dadurch dass das nicht der Fall war, und das Gefühl der Einsamkeit nicht nur innerhalb dieser menschenleeren Straßen des Condomínios, sondern bis in den Alltag des Zusammen- oder mehr aneinander-vorbei-lebens kroch, war es eine ungeheure Erleichterung und Befreiung, als ich nach vier Monaten auf Grund von unerwarteten innerfamiliären Schwierigkeiten,die zu einer starken Belastung meiner Gasteltern führte - im Frieden - aus ihrem Haus und auch aus dem Condomínio auszog.

Jetzt wohne ich in Savassi, dem lauten, bunten, wunderschönen und lebendigen Stadtzentrum, nur einen Spaziergang von meinen Freunden entfernt und bin überglücklich.

Aber es war gut, diese krasse Abgeschiedenheit kennengelernt zu haben, ich habe in dieser Zeit alles viel intensiver erlebt, mich selbst viel besser kennengelernt,  meine Art auf solche Situationen zu reagieren. Und ich habe wundervolle Freunde gefunden!

Eine auf ihre Weise sehr kostbare Erfahrung!

Aber es ist auch schön, dass sie jetzt vorbei ist.